Chinas Wirtschaft ist aus dem Gleichgewicht. Die Regierung in Peking versucht, über drei strategische Initiativen das BIP-Wachstum hoch zu halten. Gabriela Tinti, Senior Fondsmanagerin im Aktien-Team der Erste Asset Management/ERSTE-SPARINVEST, analysiert die künftigen Optionen der chinesischen Staatsführung.
Die Volksrepublik China ist einer der Gewinner der Globalisierung. Seit seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) 2001 hat das Reich der Mitte ein rasantes Wachstum verzeichnet. Mit seiner Wirtschaftsleistung liegt es mittlerweile auf dem zweiten Platz hinter den USA – und wird in den nächsten Jahren die amerikanische Volkwirtschaft hinsichtlich der Größe des Bruttoinlandsprodukts überholen. Das starke Wirtschaftswachstum hat jedoch auch zu Asymmetrien innerhalb der chinesischen Ökonomie geführt. Mit einem Paket verschiedener Initiativen versucht Peking, ein nachhaltig ausgewogenes Wachstum zu generieren und den Herausforderungen des Handelskriegs mit den USA entgegenzutreten.
Aus dem Gleichgewicht
Der anwachsende Schuldenberg, Überkapazitäten in traditionellen Bereichen wie Kohle, Stahl und Zement sowie die Umweltverschmutzung haben der Expansion zugesetzt. Das Reich der Mitte versucht daher, über verschiedene Maßnahmen diese Herausforderungen zu bewältigen und neue Wachstumsmöglichkeiten zu schaffen. Um das Wirtschaftswachstum relativ stabil zu halten, hat die Regierung schon die Geld- und Haushaltspolitik gelockert und den geplanten Schuldenabbau auf Eis gelegt. Zusätzliche Infrastrukturprojekte sollen neue Impulse setzen.
Die drei Ideen
Vor allem aber versucht Peking, über drei strategische Initiativen die Wirtschaft ausgewogener, innovativer und wettbewerbsfähiger zu gestalten und den Marsch in die technologische und industrielle Weltspitze weiter voranzutreiben. Im Zentrum stehen drei geo-ökonomische Initiativen:
- Die „One Belt, One Road“ – Initiative (OBOR. auch als „Seidenstraße“ bekannt) will die Märkte entlang von strategischen Handelsrouten entwickeln und ausbauen.
- „Internet Plus“ sowie
- „Made in China 2025“ sollen die chinesische Industrie auf eine neue Stufe hieven und den Fertigungs- und E-Commerce-Bereich fördern.
Emissionen an internationale Standards annähern
Die „Made in China 2025“-Strategie – erstellt im 13. Fünfjahresplan – skizziert Chinas Zielsetzung, die komplette Industrie zu restrukturieren und so an die industrielle Weltspitze vorzurücken. Klares Ziel: die technologische Führungsposition der USA herauszufordern. Sie sieht vor, den Innovationsbereich und die Qualität der Produkte massiv zu fördern. Die Verbesserung der Produktionstechnologien ist dabei ein Instrument. Zudem ist geplant, spätestens bis 2035 Energie, Materialverbrauch sowie Emissionen im Produktionsprozess internationalen Standards anzunähern. Der lokale Anteil von Schlüsselkomponenten und Materialen soll dabei von 40 Prozent im Jahr 2020 auf 70 Prozent im Jahr 2025 ansteigen.
Die Volksrepublik strebt also danach, immer mehr hochwertige Bauteile selbst zu produzieren und immer weniger hinzuzukaufen – „Made in China“ als Qualitätssiegel. Die Strategie hebt zehn Prioritätsbereiche hervor, die besondere Aufmerksamkeit erhalten:
- neue fortschrittliche IT,
- numerische High-End-Maschinen und -Robotik,
- Luft- und Raumfahrttechnologie,
- Meerestechnik und Hightech-Schiffsbau,
- moderne Eisenbahntechnik,
- energiesparende Fahrzeuge und Elektromobilität,
- elektrische Ausrüstungen,
- landwirtschaftliche Geräte,
- neuartige Werkstoffe sowie
- biopharmazeutische Produkte und medizinische Geräte.

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US-Zölle zielen auf Know how-Transfer
Das ambitionierte Ziel wird ohne ausländisches Know-how und Kapital in dieser vorgegeben Zeitspanne bis 2025 schwer erreichbar sein. Daher zielen die festgelegten Strafzölle der US-Regierung exakt auf diese chinesischen Prioritätsbereiche und versuchen so, die rasante Entwicklung Chinas in Richtung größter Wirtschaftsmacht zu verhindern oder zumindest so lange wie möglich zu verzögern. Auch die Anschuldigungen über Diebstahl vom geistigen Eigentum fallen darunter.
Dabei verzeichnete China bereits 2017 mit einem Budget in Höhe von EUR 226 Mrd. nach den USA die zweithöchsten Forschungsausgaben der Welt – eine Verfünffachung seit 2005. Kaufkraftbereinigt (in PPP) hat China 2018 sogar bereits die USA überholt.
Hoher Bildungsgrad – niedriges Lohnniveau
Ein Viertel aller Start-ups mit einer Größe über USD 1 Mrd. werden in China gegründet. Bei Patentanmeldungen überholen die Chinesen bereits ihre Konkurrenten und stellen so ihre Innovationsaktivitäten unter Beweis. Das aktuelle Marktumfeld in China fördert Forschung und Entwicklung verstärkt. Gründe dafür sind neben der steuerlichen Absetzbarkeit das chinesische Bildungssystem: Jährlich bringt es drei Millionen Absolventen in den Bereichen Wissenschaft und Technik hervor – fünfmal mehr Akademiker als in den USA, aber mit Löhnen, die nur ein Achtel der amerikanischen Gehälter ausmachen. Auch darf man die flexiblere und einfachere Produkteinführung sowie Testphasen durch die gesetzlichen Vorschriften nicht vergessen. Das alles unterstützt die Innovationskraft des Landes erheblich.
Übernahmen in Deutschland und Österreich
Gleichzeitig versucht Peking verstärkt, mittels Übernahmen und Beteiligungen sich Innovationssprünge in Kernbereichen zu sichern. Der chinesische Haushaltsgerätehersteller Midea verspricht sich Vorteile durch die Akquisition des deutschen Roboterherstellers Kuka. Und Kuka erhofft sich durch das Zusammengehen einen Zugang zum weltweit größten Markt für Automatisierung.
Das Beispiel zeigt: Chinesische Partner ermöglichen als Türöffner höhere Chancen beim Markteintritt, während chinesische Unternehmen Zugang zu technologischem Know-how erhalten. In der Luftfahrtindustrie hat sich schon vor mehreren Jahren der staatliche chinesische Rüstungs- und Flugzeugkonzern AVIC als Mehrheitspartner bei dem oberösterreichischen Luftfahrtzulieferer FACC etabliert. Die positive Entwicklung in der zivilen Luftfahrtindustrie mit einem jährlichen Wachstum von rund fünf Prozent hat das Unternehmen bereits dazu veranlasst, einen Teil der Produktion nach China zu verlagern.
Chinesische Autokonzerne vernetzen sich
Auch in der Automobilbranche streben chinesische Akteure strategische Partnerschaften an. Die Beteiligung des chinesischen Autobauer Geely an dem deutschen Autokonzern Daimler hat heuer viele überrascht. Dabei hat Geely schon in den vergangenen Jahren seine Expansion durch Zukäufe der Volvo PKW-Sparte, vom US-Flugautobauer Terrafugia oder dem englischen London Taxi Company vorangetrieben und sich Innovationsvorsprünge gesichert.
Mit Alibaba, Baidu und Tencent zum Internet Giganten
Die Strategie „Internet Plus“ komplementiert das Restrukturierungsziel. Durch sie sollen Internet-Technologien wie Mobile Internet, Cloud Computing, Big Data und Internet of Things in traditionelle Industrien integriert werden, um den Informationsfluss sowie die Effizienz zu verbessern und Kosten zu minimieren. Gleichzeitig fördert China Start-Ups, E-Commerce-Unternehmen und FinTechs. Die Strategie soll ganze Wirtschaftsbereiche umwandeln und die ländlichen Gebiete des Landes in die Wirtschaft integrieren und transformieren.
Erfolgreiche Internetgiganten wie Alibaba Group, Tencent Holding und Baidu, die sich nicht im staatlichen Besitz befinden, gelten als große Vorbilder. Durch Protektionismus behält aber gleichzeitig der chinesische Staat die Kontrolle über die private Webnutzung, denn ausländische Webplattformen wie Google, Facebook, Amazon etc. werden weiterhin nicht zugelassen.
One Belt, One Road soll es richten
Die dritte chinesische Initiative – die „One Belt, One Road“-Strategie – bezieht sich auf die Kombination eines landgestützten Wirtschaftsgürtels Seidenstraße (ein ökonomischer Korridor entlang des eurasischen Kontinents bis nach Westeuropa) und einer maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts (ein Netzwerk von maritimen Handelswegen, die Asien mit Afrika und Europa verbinden).
Laut chinesischer Regierung haben bereits 65 Länder weltweit ihr Interesse an einer Mitarbeit bekundet, wodurch ein potenzieller Markt mit 4,4 Mrd. Menschen enstehen würde. Investitionen im eurasischen Raum, beispielsweise in Afghanistan oder Pakistan, würden das Wirtschaftswachtum und die politische Stabilität in dieser Weltregion fördern sowie Wirtschaftsmigration eindämmen.
Umbau macht verwundbar
Damit adressiert die chinesische Führung mit ihrem Strategiepaket eine Kombinantion externer und interner Risikofaktoren, die die Widerstandsfähigkeit der chinesischen Wirtschaft kurzfristig beeinträchtigen könnten. Reduziert Peking seinen wirtschaftlichen Protektionismus und öffnet sich für strategische Partnerschaften auf Augenhöhe, werden auch die US-Sanktionen die Entwicklung des Reichs der Mitte zur Wirtschaftsmacht Nummer eins nicht verhindern können.