Das Firmengelände des innovativen Tullner Familienunternehmens Breitwieser, das sich vom Betonerzeuger zu einem der größten Unternehmen Österreichs für die Verarbeitung und den Handel von exklusiven Natursteinen aus aller Welt transformiert hat, bot die perfekte Location für den Vortrag von Univ. Prof. Dr. Christian Helmenstein, seines Zeichens Chefökonom der Industriellenvereinigung und Student der Volkswirtschaftslehre im 71. Semester, wie er mit einem Schmunzeln festhielt. In seinem rund einstündigen Vortag und dem anschließenden regen Austausch zu dem Erste Bank-Vorstand Willibald Cernko und sein Team gemeinsam mit den Breitwieser-Geschäftsführer:innen Kristina und Manfred Breitwieser geladen haben, drehte sich alles um das Thema Zeitenwende und die damit verbundenen Chancen und Risiken für heimische Unternehmen.
Unter den Gästen war neben Kolleg:innen, Partner:innen und Kund:innen der Erste Bank auch der Tullner Bürgermeister Peter Eisenschenk. Risiko-Vorstand Cernko eröffnete die Veranstaltung mit einer Rede, in der er auf die unglaublichen Herausforderungen verwies, die auf Volkwirtschaften, Banken und Unternehmen in den kommenden Monaten und Jahren zukommen werden. „Erst kam die Finanzkrise, dann ging es nach oben, dann kam Covid und wir dachten ‚schlimmer geht es nicht mehr‘. Dann haben wir zur Überraschung aller festgestellt, wie stark wir aus der Krise herausgekommen sind. Kaum sind wir jedoch wieder im Steigflug, passiert die Tragödie in der Ukraine,“ bringt der erfahrene Manager die vergangen zwei Jahre auf den Punkt, um im nächsten Atemzug gleich wieder Aufbruchstimmung zu versprühen: „Es ist jetzt die Zeit der Unternehmerinnen und Unternehmer und je unwegsamer die Situation ist, desto mehr ist Unternehmergeist gefragt.“
2022 als das Jahr der Superlative
Obwohl Christian Helmenstein ausnahmslos echte Branchenkenner als Zuhörer:innen hatte, vermochte der renommierte Ökonom mit seinem Vortrag zu begeistern. Um gleich jeden verstehen zu lassen, was er mit dem Studenten im 71. Semester gemeint hat, beschrieb er 2022 als das Jahr der Superlative. „Wir haben die höchste Inflation seit 40 Jahren und hätten ohne die Ukraine-Krise den stärksten Aufschwung seit 50 Jahren erlebt.“
Darüber hinaus würden heuer erstmals seit vielen Jahren die gewohnten Verhältnisse auf den Gütermärkten umgekehrt. „Wir haben in den letzten 25 Jahren eine Zeit der Überproduktion erlebt, die nicht zuletzt durch chinesische Unternehmen getrieben wurde,“ so Helmenstein. Das habe die EU und die USA als Industriestandorte stark unter Druck gesetzt, denn mit der zunehmenden Internationalisierung der Märkte Anfang der 2000er Jahre wurden Indien und eben China zu globalen Akteuren.
Kein Grund für hängende Köpfe
„Ich höre immer wieder junge Menschen sagen, dass sie eine Generation seien, für die es kaum noch wirtschaftliche Perspektiven gebe, nach allem was in den letzten Jahren auf uns eingeprasselt ist,“ zitiert Helmenstein und relativiert sofort: „Aber das stimmt doch im Grunde gar nicht. Die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts standen für die „Generation no future“, wenn ich nur an den Kalten Krieg, an Massenarbeitslosigkeit und an das Waldsterben erinnern darf. Ökonomisch erleben wir heute genau das Gegenteil mit sehr niedrigen Arbeitslosenzahlen und hervorragenden Einkommensperspektiven für Menschen mit guter Ausbildung.“
Als nächstes Beispiel für 2022 als das Jahr der Zeitenwende führt Helmenstein die Geldpolitik der Notenbank und das Phänomen negativer Zinsen an. „Negative Zinsen sind nicht das Ergebnis der europäischen Geldpolitik, Die Notenbanken haben den Prozess lediglich vorverlagert, die Ursache selbst liegt in der Digitalisierung. Früher hat man für einen Börsenwert von einer Milliarde Euro ein Anlagevermögen in derselben Höhe benötigt. „Heute ist das ganz anders. In einer Zeit von Facebook, Google und Co. benötigt man für einen Börsenwert von einer Milliarde lediglich 40 Millionen an physischem Kapital.“ Helmenstein weiter: „Dann ist geradezu zwangsläufig zu erwarten, dass das Kapitalangebot und die Kapitalnachfrage aus dem Gleichgewicht geraten und der Preis für Kapital, der Realzins, ins Bodenlose fällt. Das hat ursächlich nichts mit der Politik der Notenbanken zu tun. Dieses Phänomen wird uns daher mutmaßlich noch viel länger begleiten.“
Mit einem weiteren Superlativ schließt Helmenstein den Kreis zum Ende der Ära der Überproduktion. „Einen derartigen Produktionsengpass, wie wir ihn derzeit erleben, gab es 25 Jahre lang nicht, im Grunde sogar seit der Nachfragespitze im Kontext der Ost-Öffnung. Lieferkettenunterbrechungen, Knappheit und daraus resultierende Knappheitspreise, also Preise, die nichts mehr mit den Grenzkosten der Produktion zu tun haben und viel höhere Aufschläge implizieren, hat es in dieser Form in einer digitalisierten Welt noch nicht gegeben.“
Damoklesschwert Fachkräftemangel
Den aktuell vorherrschen Fachkräftemangel in Österreich und auch der gesamten EU bezeichnet Helmenstein als „Episode zum Aufwärmen“ und verweist auf über eine halbe Million Arbeitsplätze, die in den nächsten 12 Jahren in Österreich pensionsbedingt frei, aber mangels Nachwuchses nicht nachbesetzt werden können. Allein in Deutschland würden im selben Zeitraum ganze fünf Millionen Arbeitnehmer:innen fehlen. „Nicht einmal, wenn alle Erwerbstätigen aus Österreich im Nachbarland arbeiteten, würde es dort genügend Arbeitskräfte geben, um alle offenen Stellen zu besetzen,“ unterstreicht Helmenstein bildlich, „und das, obwohl hier keine einzige Person mehr tätig wäre.“
Unternehmer:innen müssten also jetzt mehr denn je gute Mitarbeiter:innen an das Unternehmen binden und mehr Anreize für einen Verbleib schaffen. „Der Konkurrenzkampf, also der sogenannte „war for talents“, findet nicht mehr nur im eigenen Land statt, sondern international.“ Auch hier finde eine Zeitenwende statt.
Zeitenwende als Weckruf für Unternehmen
Ein überaus wichtiges Thema war Helmenstein in seinem Vortrag jenes der ökologischen und ökonomischen Zeitenwende, die er eng miteinander verbunden sieht. „Die USA waren immer ein Nettoenergieimporteur und sind jetzt ein Energieexporteur. China saugt auf, was von den USA nicht mehr importiert wird. Das ist ein schlechtes Zeichen für Europa,“ warnt der Ökonom. Nicht mehr der europäische Konjunkturzyklus determiniere die Rohstoffpreise. „Waren wir in Europa in einer Rezession, waren es die USA zumeist auch. Und umgekehrt. Die niedrigen Rohstoff- und Energiepreis in früheren Rezessionsphasen bargen jedoch schon den Keim des Aufschwungs in sich. Das gilt jetzt nicht mehr. Wir laufen China hinterher.“
Eine Lanze bricht Helmenstein für eine Zeitenwende durch erneuerbare Energie. Und genau hier liege auch Potenzial für die europäischen Unternehmen. „Die enorm gestiegenen Energiepreise haben den Gegensatz zwischen Ökologie und Ökonomie aufgehoben“, postuliert der Ökonom. Erneuerbare Energie müsse in der Europäischen Union in einem Preisband erzeugt werden, das global kompetitiv liege. „Wenn die aktuellen Energie- und allen voran die Gaspreise Sie als Unternehmer:innen nicht in die Knie zwingen, dann werden Sie auch in Zukunft in dieser Hinsicht wettbewerbsfähig bleiben: Denn die Erzeugungskosten erneuerbarer Energie ‚Made in Europe‘ werden nicht über jenen liegen, welche die Unternehmen derzeit schon für Energieimporte aus Drittstaaten berappen müssen.
Industrierezession bei Gaslieferstopp
Helmenstein verweist in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf die aktuelle Situation in der Ukraine. Obwohl etwa über 95 Prozent des Speiseöls aus der Ukraine importiert werden, und auch die Rohstoffknappheit die Preise in die Höhe treibt, gäbe es in der EU immer noch ein 0 Wachstum. „Selbst Helmenstein verweist in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf die aktuelle Situation in der Ukraine. Obwohl europaweit beispielsweise über 90 Prozent des Speiseöls aus der Ukraine importiert werden und wichtige Lieferungen von Industrierohstoffen aus Russland und der Ukraine unterbrochen sind, ist für heuer noch mit Wachstum zu rechnen. „Die Industrie hat den Aufschwung während der letzten rund eineinhalb Jahren getragen, jetzt ist der Dienstleistungssektor gefragt, als Expansionsmotor zu übernehmen. Insbesondere der Tourismus habe noch lange nicht das Niveau von vor der Pandemie erreicht.
Selbst bei einem Gaslieferstopp rechnet Helmenstein für dieses Jahr nur mit einer Stagnation der heimischen Wirtschaft. Nachsatz: Für die Industrie bedeutete dies jedoch eine sofortige Rezession, die im kommenden Jahr die gesamte Wirtschaft erfassen würde. Daher sei es das Gebot der Stunde, durch unternehmerisches Handeln die ökologische und ökonomische Zeitenwende mitzugestalten. Helmenstein abschließend: „Die Zeitenwende bietet enorme Marktchancen. Ob sie uns ökonomisch gelingt, hängt davon ab, ob Unternehmer:innen unterstützt oder gehindert werden, das zu tun, was sie am besten können: Den „Wind of Change“ zu nutzen und zu neuen Ufern aufzubrechen.